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400 JAHRE UND JETZT

Über Ostern residierte ich mal wieder in München. Darunter mindestens zwei Highlights: der soda-Buchladen im Glockenbachviertel glänzt mit einer beachtlichen Auswahl an diversen (vor allem Grafik-)Designbüchern, die eine ganze Bandbreite abdecken. Ich musste prompt meinen Wunschzettel um ca. zehn weitere Bücher aufstocken. Erwähnenswert: die Bücher und die Magazine begrüßen den Leser durchweg mit ihren Covern. So macht es weitaus mehr Spaß zu stöbern als sich mühsam mit dem Kopf in Schräglage an den Buchrücken entlang zu angeln.

Zudem musste ich natürlich wieder ins Kunstareal. Die Alte Pinakothek war dieses Mal dran. Jedesmal entdecke ich etwas Neues: in einem Gemälde beispielsweise waren derart stilisierte, abstrahierte Pflanzenformen zu sehen, die mich wahnsinnig stark an diese floralen Vektorzeitgeistgrafiken erinnerten, die momentan und immer noch bis zum Erbrechen wiedergekaut werden. Enorm – über 400 Jahre liegen dazwischen. Die Darstellungsweise ist dieselbe.

Eigentlich sollte ich mal hier einen Aufruf starten, was für Euch im Grafikdesign ähnlich ausgelutscht ist. Da fällt mir nämlich aus dem Stand noch einiges mehr ein, als nur diese floralen, ornamentalen Vektorgeschichten: Sprechblasen, Sterne; Kreise/Punkte mit “Nasen” wie beim Graffiti; alles in Versalien, alles in Minuskeln; geschnippelte Basteltypo; Spiegeleffekte aka Apple/Mac, “3D super glossy logos”; rein ornamentale mash-ups bzw Collagen; Einsatz wahnsinnig “hipper” Freefonts (siehe top 100, dafont.com), etc etc etc.

Peter Paul Rubens und Dürer waren bisher meine heimlichen Lieblinge in der Alten Pinakothek. Anthonis van Dyck darf sich wohl ab nun auch zu diesem erlauchten Kreis zählen (unten sein Selbstportrait). Er ist ein flämischer Meisterschüler von Peter Paul Rubens gewesen, der es verstand, dem Betrachter einen lebendigen, eindringlichen Eindruck der abgebildeten Menschen zu vermitteln. Um es mal poetisch zu umschreiben: van Dycks Malstil ist für mich ein großartiger Dosenöffner, um Zugang zu Seele und Natur der dargestellten Personen zu erhalten.

Rubens’ “Höllensturz der Verdammten” brauchte sich aber auch nicht zu verstecken und gab mir nebenbei auch noch gehörig einen mit: Es ist bemerkenswert, dass wir Menschen soviel mehr wissen und (vor allem technisch) beherrschen als noch um 1620, als dieses Bild entstand.

Gut 400 Jahre später sind wir in der Lage uns als Normalo in den hintersten Winkel der Erde fliegen zu lassen und in einer digital so eng zusammengerückten Welt mehr oder weniger sinnvolle Einträge in blogs zu posten, die jeder Orang-Utan mit Internetzugang lesen kann (sofern er obendrein auch noch deutsch kann). Zudem lassen sich Angestellte im Lebensmitteldiscounter per minispycam von der Decke herab wunderbar ausspionieren. Welch Fortschritt!

Wirft man aber nun einen genaueren Blick auf Rubens’ Gemälde mit sämtlichen Kreaturen der Unterwelt, so fällt wiederum ziemlich schnell auf, wie zurückgeblieben wir eigentlich sind. Die Evolution muss wohl irgendwie unsere Phantasie übergangen haben. Da hat sich in den letzten 400 Jahren nicht wirklich viel getan. Beäugt man die finsteren Gestalten der Filmgeschichte in früheren, aber v.a. heutigen Psycho-/ Horror-/ SciFi-/ Fantasystreifen, so fällt ziemlich schnell auf, dass sie sich äußerlich kaum bis gar nicht verändert haben seit Rubens’ “Höllensturz”. Dabei ist doch unsere Vorstellungskraft das Unzähmbarste überhaupt?

In diesem Sinne meine Empfehlung, sofern Ihr demnächst durch die Alte Pinakothek flanieren solltet: van Dycks und Rubens’ Werke nicht nur anschauen, sondern betrachten. Lasst Euch von der lebhaften Mimik und Gestik in van Dycks Bildern einnehmen und zieht Euch mit Rubens’ “Höllensturz der Verdammten” den wohl besten statischen Horrorfilm aller Zeiten rein!

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